Die Nachtkerze ist eine ganz besondere Blume in Wurzerls Garten. Sobald die Sonne den westlichen Horizont berührt, werden die Knospen-Kinder dieser Pflanze unruhig und die Ältesten fragen aufgeregt wispernd: „Mama, dürfen wir schon aufspringen?“ Sind sie groß genug nickt die Pflanzen-Mama und die grünen Hüllblätter schälen sich auf wie winzige Bananenschalen. Kleine gelbe Spitzen, die wie Schul-Tüten für Zwerge aussehen, kommen dann zum Vorschein. Und gleich darauf beginnt ein anrührendes Schauspiel. Ganz langsam, wie im Zeitlupen-Tempo, entfalten sich die Spitzen zu wunderschönen Blüten-Schalen, die in der Dämmerung leuchten.
Viele Gartenbewohner, allen voran Wurzerl, Blumenelfe und Zwobel versuchen, sich diesen magischen Moment an den lauen Abenden im Sommer nicht entgehen zu lassen. Manchmal bekommt Wurzerl auch Besuch von den Nachbars-Kindern, die dann staunend vor diesem kleinen Wunder stehen. Weit und breit gibt es keine andere Pflanze, der man am Abend beim Aufblühen zusehen könnte.
Anfangs gibt es nur eine Unmenge Knospen zu sehen, dann blühen jeden Abend in der Dämmerstunde von unten nach oben immer neue Nachtkerzen-Blüten auf. Es dauert viele Wochen, bis sich alle Blüten geöffnet haben. Die Nachtfalter, vor allem die Schwärmer lieben sie und fliegen auf die im Mondschein leuchtenden Blüten.
Mama Nachtkerze ist jeden Abend wieder entzückt über die Geburt ihrer Blütenkinder. Eines Abends unterhält sie sich mit der Blumenelfe, die schwärmerisch zu ihr sagt: „Wenn Deine Kinder aufblühen, dann ist das immer ein ganz besonderer magischer Moment für mich. Nur das Licht des Sonnenaufgangs zu beobachten ist noch schöner!“
Eine der Knospen, die eigentlich an diesem Abend aufspringen sollte, hört das und verschließt schnell wieder das Türchen der Blüten-Hülle, aus dem schon ein winziges gelbes Spitzchen herausschaut. Als die Mama merkt, dass an diesem Abend nur die beiden Geschwister aufgeblüht sind, fragt sie das Kleine besorgt, was denn los sei? „Wie mag die Sonne aussehen, was ist das – das Licht?“ fragt das Knospen-Kind. “Das Sonnenlicht ist nicht gut für kleine Nachtkerzen-Blüten, also bitte, morgen Abend ist Deine Zeit endgültig gekommen, Du musst dann aufblühen.” antwortet die Mama ein wenig unwirsch.
Aber auch am nächsten Abend weigert sich das Nachtkerzen-Kind aufzublühen. Es sprudelt richtig aus ihm heraus, dass es unbedingt in der Sonne aufblühen wolle, damit es weiß, was „Licht“ ist. Die Nachtkerzen-Mama versucht erst einmal das Blumenkind mit guten Worten zu überzeugen: „Schau Kleines, wenn nicht genügend von Euch in jeder Nacht aufblühen, dann hungern die Nachtfalter, sie brauchen Euch, weil die meisten anderen Blumen ja in der Nacht schlafen. Darum ist es unsere Pflicht im Dunkeln zu blühen und deshalb heißen wir ja auch Nachtkerzen“. Das Blumenkind schüttelt eigensinnig den Kopf. Ebenso, als eines der aufgeblühten Geschwisterchen vom wunderbaren Duft der Nachtviole schwärmt. Die Überredungskünste nützen rein nichts, die Knospe bleibt standhaft – und verschlossen – und träumt von etwas, das man Licht nennt! Als die ratlose Mama wieder einmal einen Versuch macht, das Nachtkerzen-Kind zum Aufblühen zu bewegen, erklärt es steif und fest: „Ich werde nur blühen, wenn Du mir versprichst, dass ich dann das Licht sehen werde!“
Täglich pilgern Schmetterlinge, Käfer, Libellen und Wildbienen zur Nachtkerze. Alle haben gute Ratschläge für Mutter und Kind. Das Landkärtchen, ein brauner Schmetterling, warnt vor den heißen Sonnenstrahlen, und nennt das Nachtkerzen-Kind als erster “Prinzesschen”. Schnell heißt das Blumen-Kind dann auch im ganzen Garten so.
Frau Kohlschnake hat jeden Tag einen neuen Rat für die Nachtkerzen-Mama parat, aber diese hört immer nur mit einem halben Ohr hin. Ihre Sorge um das “Prinzesschen” wächst.
Langsam haben die Garten-Bewohner Angst, dass das eigensinnige Nachtkerzen-Kind am Tage im hellsten Sonnenlicht aufblühen könnte. Es würde sich an den Sonnenstrahlen verbrennen, denn Nachtkerzen-Blüten haben nun einmal keine Sonnencreme. Aber das Nachtkerzen-Kind kann gar nicht zur falschen Zeit aufblühen, weil die besonnene Mama tagsüber das Knospen-Türchen fest verschließt. Das winzige Schlüsselchen versteckt sie im Steingarten beim Zwobel. Unter vielen blauen Glockenblumen liegt das Schlüsselchen jeden Tag bis zur Dämmerung gut verwahrt, dann bringt der Zwobel es zum Knospen-Türchen des Prinzesschens.
Die Blütezeit der Nachtkerzen neigt sich langsam dem Ende zu. Inzwischen sind schon die ersten Herbstastern aufgeblüht. Auf ihnen sitzt nun täglich ein Tag-Pfauenauge und beobachtet das sich steigernde, kleine Drama um das Nachtkerzen-Kind. Es gibt nur noch ganz wenige Knospen an der Pflanze und die Prinzessin ist schon lange mit Abstand die allergrößte Knospe und sieht so aus, als ob sie jeden Moment platzen würde. Ehrlich gesagt, aus dem Prinzesschen ist eine richtige kleine “Dick-Madam” geworden. Dagegen sieht das faule “Tönnchen”, die Libellenlarve im Gartenteich, direkt schlank aus.
In ihrer Verzweiflung wendet sich die Nachtkerzen-Mama endlich an die Blumenelfe. Diese versteht sofort, dass nicht mehr viel Zeit bleibt und sofort etwas geschehen muss. Als sie, wie jeden lauen Sommerabend von zwei Glühwürmchen begleitet, zu ihrem Schlafplatz zurückfliegt, hat sie plötzlich die rettende Idee und sie flüstert noch eine ganze Weile mit ihren Begleitern. Die Glühwürmchen fliegen auf dem Nachhauseweg noch einmal bei Mama Nachtkerze vorbei und bestellen von der Blumenelfe Grüße: “Sag bitte Deinem Kind, wenn es morgen Abend artig aufblüht, wird es ganz sicher das Licht kennenlernen, das ist versprochen!”
Am nächsten Abend hat man das Gefühl, dass kein einziger Gartenbewohner schlafen gegangen ist. Alle fragen sich gespannt, was die Blumenelfe geplant hat und fiebern dem Sonnenuntergang entgegen. Am aufgeregtesten ist natürlich das Prinzesschen selber, das schon Bescheid weiß, dass es endlich das “Licht” kennenlernen wird. Die Nachtkerzen-Mama fragt sich besorgt, wie die Elfe dieses Versprechen in der Dunkelheit einlösen will? Lügen ist nämlich für Elfen und Pflanzen undenkbar. Höchstens der Zwobel schwindelt ab und zu, aber er selbst sieht das dann natürlich nur als erlaubte Notlüge an. Die Sonne sinkt und nach der blauen Stunde wird es dunkler.
Der Zwobel gleitet den Steingarten vorsichtig hinunter, er hat ja das Schlüsselchen bei sich. Die “Fetthenne” hat sich extra den Tau der Dämmerung aufgehoben und knipst für den Zwobel schon mal die Orientierungs-Lampen an.
Als ein letzter rötlicher Schimmer am Horizont verschwindet, sperrt die Nachtkerzen-Mama das Knospen-Türchen auf. Sie gibt dem Prinzesschen einen kleinen Klaps auf den Po und -klack- öffnet sich die Knospe und die gelbe Blüten-Schale faltet sich langsam weit auf und schaut erwartungsvoll um sich.
In diesem Moment geschieht etwas wundersames. Eine ganze Armada von Glühwürmchen kommt aus allen Richtungen, fliegt auf die gelbe Blüte zu und leuchtet mit ihr um die Wette. Endlich, endlich ist die Blüte der Prinzessin da und keiner könnte behaupten, was nun schöner ist, das Sonnenlicht am Tag, oder das Licht der überglücklichen Nachtkerzen-Blüte in der sich die vielen kleinen Lichter der Glühwürmchen spiegeln.
Was für ein großer Augenblick für Wurzerls Garten! Alle verharren in ehrfürchtigem Schweigen, sogar der Bach scheint leiser zu plätschern und selbst der immer herum hampelnde Zwobel steht andächtig und ruhig da. Die Nachtviole verschüttet vor Aufregung ihre Parfümflasche und duftet und duftet und duftet. Es ist ein Lichtermeer und ein ergriffenes Entzücken im Garten, wie niemals zuvor. Auch Wurzerls Augen strahlen und ihr Vergleich, dass das eine prachtvolle Fest-Illumination sei, die man doch ausnützen müsse, führt dazu, dass es noch eine ausgelassene Feier gibt und alle mit Honig-Met anstoßen. Nur das Nachtkerzen-Kind bekommt nichts zu trinken, es gluckert überglücklich lachend die ganze Nacht vor sich hin und Wurzerl hat Angst, es könnte sich am Honig-Met verschlucken.
21 Kommentare
Bezaubernd (“härzig” würden wir bei uns sagen), dieses Märchen! Erinnert mich gerade an eine längst vergangene Schularbeit meines jüngsten Sohnes, in der er die Nachtkerze “beschrieb” und ich ihm dafür die Fotos machte. Letzteres war gar nicht so einfach, da das Licht sich nicht immer ideal dafür zeigte. Uebrigens, deine Fotos zur Geschichte finde ich wunderschön. Bin schon gespannt auf dein nächstes Märchen!
Liebe Barbara, vielen Dank für den netten Kommentar. Ich denke immer, solange irgendwo ein Kind in uns schlummert, haben wir keine Zeit alt zu werden. Ich hoffe Du hast unter den Fotos “Neuestes” und “Nächstes” Märchen auch den Index entdeckt, wo Du noch weitere Märchen findest, von 0 Prolog – Märchen 4? Ja und wie dann Tönnchens Geschichte endet, das erfährst Du dann auch schon am Dienstag den 1.9.20. Ich wünsche Dir viel Spaß beim Schmökern und einen schönen Sonntag.
Herzlichst
Wurzerl
Liebe Renate, dein neues Märchen finde ich einfach bezaubernd und warte jetzt gespannt auf das Nächste. SO toll und mit soviel Fantasie geschrieben wie bereits die Anderen. Herzlichst Gitti
Liebe Gitti,
es freut mich sehr, dass die Märchenfans auch auf meine neue Seite gefunden haben. Das nächste kommt am Dienstag, das kennst Du vielleicht schon, aber dann kommen 2 Märchen, die neu sind. Stell Dir vor, die neue Website hat mich so beflügelt, dass ich wieder schreiben kann. Jetzt habe ich gestern sogar die allererste Anfangsgeschichte in einem Ruck fertiggemacht, nach der ich 11 Jahre gesucht habe.
Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag und grüße Dich ganz herzlich.
Wurzerl
Liebes Wurzerl, ich habe deine Seite gespeichert, damit ich sie immer wieder finde. Ich begann die Reise durch deine Beiträge mit den Märchen. Einfach herrlich, welch zauberhafte Geschichten du in deinem Garten erlebst. Ich bin von der ganzen Seite so begeistert, dass ich gern immer öfters her komme, um ein wenig zu verweilen. Herzlichen Glückwunsch zu diesem gelungenen Gesamtkunstwerk.
Liebe Helga, na das ist ja prima, passenderweise gibt es am Dienstag schon das nächste Märchen. Ich freue mich sehr, dass Dir meine Seite gefällt und wünsche Dir weiterhin viel Spaß beim Stöbern – egal ob Du noch weiter in die Märchen-Welt eintauchst, Wurzerls Garten-Impressionen anschaust oder mit mir auf abenteuerliche Reisen gehst.
Ich wünsche Dir noch einen geruhsamen Sonntag
Herzlichst
Renate Zickenheimer
auch ein tolles Märchen. Da ich die Blumen, die du für deine Märchen gebrauchst, auch alle in meinem Garten habe, sehe ich sie jetzt mit anderen Augen. Übrigens meine Nachtkerzen scheuen das Sonnenlicht nicht, und blühen oft auch tagsüber – lach.
Liebe Erika, Wurzerls Nachtkerzen blühen auch am Tag weiter. Aber normalerweise nur einen, außer die Nachtfalter hatten keinen Appetit, dann sind es auch mal zwei Tage.
LG Wurzerl
Soo eine wunderschöne Geschichte. Da fehlen mir vor Ehrfurcht glatt die Worte. Wir schreiben Weihnachten immer Geschichten als Antwortbriefe zu den Briefen der Kinder an den Weihnachtsmann. Das wird uns anspornen. Danke
Das freut mich liebe Petra, es gibt ja schon eine ganze Reihe Märchen auf Wurzerls Märchensparte, vielleicht findest Du ja noch mehr Anregungen für die Briefe. Briefe sind ja inzwischen schon etwas ganz wunderbar besonderes geworden. LG Wurzerl
Eine märchenhafte Geschichte, Welche einen um Jahrzehnte zurückkatapultiert…in die Kinder und Jugendzeit…! So ähnlich gehts mir zur Zeit in unserm Garten, denn die Nachtkerzen haben zugenommen und des Abends verströmen sie einen betörend süßlich-schweren Vanilleduft und die Nachtschwärmer rangeln um Ihren Inhalt – EINFACH NUR SCHÖN
Das freut mich lieber Detlef, mir geht es ganz genauso. LG Wurzerl
Ach Renate
Das ist ja wieder eine bezaubernde Geschichte. Dankeschön für das Teilen.
Ich habe richtig mitgefiebert wie es wohl ausgeht.Traumhafte Bilder dazu. Liebe Grüße Karin
Sehr gerne liebe Karin, ich wünsche Dir eine schöne Restwoche. LG Wurzerl
Vielen Dank für diese wunderschöne Geschichte!
Aber gerne doch, liebe Mairen. Hab eine gute Restwoche. LG Wurzerl
Eine ganz liebe Geschichte
Danke liebe Karin und schönen Sonntag für Euch. LG Wurzerl
Liebes Wurzerl, ich habe deine Geschichte heute erst gelesen. Sooo süß 🥰
Im 2. Satz müsste es westlicher Horizont heissen.
Vielen Dank Jürgen, da hat das Wurzerl nicht richtig aufgepasst. Aber Du hast recht, auch in einem Märchen sollten die Himmelsrichtungen stimmen. Die Blumenelfe hat mich gerade tüchtig ausgelacht, als ich Deine Korrektur angebracht habe. Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende. LG Wurzerl