Eigentlich waren alle Tiere und Pflanzen in Wurzerls Garten glücklich, so, wie sich Wurzerl das gewünscht hatte. Aber hin und wieder gibt es auch hier kleine Kümmernisse, genauso wie bei den Menschenkindern.
Jedes Jahr im Frühling blühen ganz hinten im Garten kleine weiße Blumen. Sie wachsen dort im Schutz der Bäume und Sträucher im Halbschatten und fallen kaum jemandem auf. Die Blumenelfe kennt die schüchternen kleinen weißen Blütenglöckchen und wenn sie die erste entdeckt, weiß sie, jetzt beginnt der Wonnemonat, darum hat sie diese weißen Blumen Maiglöckchen genannt.
Als Wurzerl neu in den Garten kam, da gab es noch keine Ordnung. Der alte Mann, der davor hier gewohnt hatte, ließ alles wachsen und blühen, wie es nur wollte. Als Wurzerl einzog, sie war ja ein Stadtkind und lernte erst nach und nach mit Hilfe der Blumenelfe und des Zwobels die Tiere und Pflanzen im Garten kennen, da wuchs im Garten alles kunterbunt durcheinander.
Eines Tages sieht Wurzerl wie der Zwobel sich ein längliches Blatt von “Irgendwas” abschneidet und auf den fragenden Blick von Wurzerl verkündet, dass er sich jetzt ein köstliches Bärlauch-Pesto zubereiten wird.
Wurzerl möchte das auch ausprobieren und holt sich auch ein längliches Blatt von “Irgendwas”. Leider erwischt sie dabei kein Bärlauch-Blatt, sondern pflückt das sehr ähnliche Maiglöckchen. Als sie gerade ein Stückchen Brot mit einem Löffelchen Pesto versuchen will, steht der Zwobel vor ihr. Er hält ihr den Rest vom Stiel unter die Nase und fragt, ob da 2 Blätter dran waren, die jetzt in ihrem Pesto eingerührt sind? “Ja”, meint Wurzerl: “Du hast mir richtig Appetit mit Deinem Bärlauch-Pesto gemacht, das wollte ich auch probieren.” Der Zwobel schnauft einmal tief durch und erklärt Wurzerl, dass sie sich von der Ähnlichkeit hatte täuschen lassen und ein hochgiftiges Maiglöckchen-Blattpaar geerntet hätte. Der Zwobel ist jetzt in Fahrt gekommen und erklärt Wurzerl, wie man die Blätter unterscheidet. Das Maiglöckchen hat weder den kantigen Stiel, an dem nur je ein Blatt sitzt, noch die matte Blatt-Unterseite, sondern die Blätter des Maiglöckchens umwickeln sich fast wie eine Blattrosette, haben eine glänzende Blatt-Unterseite und stehen aufrechter, als der Bärlauch. Bärlauch riecht aber doch nach Knoblauch, meint Wurzerl, daran erkenne ich es doch sicher? “Nein, das ist gar nicht sicher, denn wenn Du davor ein Bärlauch-Blatt in der Hand hattest und danach ein Maiglöckchen-Blatt pflückst, dann riecht das auch nach Knoblauch.” Eifrig fügt der Zwobel hinzu, dass er nach dem Essen alle Maiglöckchen zwischen dem Bärlauch ausgraben und ganz hinten am Garten-Ende wieder einpflanzen würde. Dann kann Wurzerl ungefährdet Bärlauch ernten, bis dieser anfängt, seine Knospe zu öffnen und damit ungenießbar wird.
Genau so geschieht es auch! Der Zwobel arbeitet so lange, bis alle Maiglöckchen in der hinteren Garten-Ecke zusammen stehen. Und genau das ist wohl der Grund, dass sich die Maiglöckchen selbst hässlich und unscheinbar finden. Und weil sie sich so gar nicht mögen, verstecken sich die Blüten immer tiefer zwischen den Blättern.
Dabei ist das Maiglöckchen mit seinem Blätterröckchen, dem zarten Blütenstängel und den kleinen, weißen Glöckchen daran, so hübsch und apart anzusehen. Früher, mitten im Garten platziert, richteten sich die Maiglöckchen-Blüten immer auf, um das Treiben der Insekten und anderer Blumen zu beobachten, aber jetzt sieht man sie kaum mehr, wie schade.
Da zwischen den Baumwurzeln viel Platz ist, haben sich die Maiglöckchen mächtig ausgebreitet. Irgendwie sieht es da hinten wie ein richtiger kleiner Urwald aus. Zumindest dem Zwobel kommt das so vor. Ihm gefällt dieser Blätter-Urwald gut, er schaut oft von der Spitze des Steingartens nach hinten zum Gartenende. Das schöne, silbrig überhauchte Edelweiß in seiner Nähe kennt er so gut, dass er es gar nicht mehr beachtet, ihn interessiert der Blätterwald viel mehr. Eines Morgens beschließt er einen Ausflug zu den Maiglöckchen zu machen, um zu sehen, ob sie sich in ihrem neuen Zuhause, weit weg vom Bärlauch, auch wohlfühlen.
Er springt quer durch den Garten und mitten in den Maiglöckchen-Urwald hinein. Da entdeckt er dann auch eine der hübschen, weißen Blüten. Diese erschreckt sich so heftig, als sie den Zwobel sieht, dass sie sich noch tiefer in den Blattschlund hinein schmiegt. Er schüttelt nur den Kopf und geht weiter und weiter bis, ja bis er sich hoffnungslos im Blattgewirr der vielen Maiglöckchen verlaufen hat. “Puh”, sagt er leise zu sich selbst, “dass ausgerechnet mir so etwas Blödes passieren muss. Der ganze Garten wird sich kaputt lachen, wenn ich um Hilfe rufe, weil ich jetzt hier nicht mehr herausfinde.”
Das Maiglöckchen, das ihm am nächsten steht, wispert ihm daraufhin leise ins Ohr: “Du musst nicht um Hilfe rufen, wir bringen Dich schon heraus aus unserem Blätterwald. Du musst nur auf unser Läuten hören. Das Glöckchen, das in der Richtung steht, in die Du jetzt gehen musst, läutet Dich zum nächsten und immer weiter, bis Du wieder auf dem Garten-Weg angekommen bist”.
Der Zwobel weiß nicht so recht wie das funktionieren soll, die Blümchen sehen doch auch nicht weiter als er selber? Er staunt darum nicht schlecht, als sich plötzlich hunderte Blütenstängel mit einer Unmenge von reinweißen Glöckchen daran, weit über ihre Blattröckchen erheben und anfangen in die Richtung, die er einschlagen muss, zu läuten. Jetzt sehen sie aus wie früher, mitten im Garten und der Zwobel ist sich sicher, dass es funktionieren wird. Da fällt ihm ein richtig großer Stein vom Herzen! Schon nach kurzer Zeit durchschreitet er die letzten Pflanzen und ist wieder auf dem Weg, mit Sicht zu seinem Zuhause, angelangt. “Boah”, denkt er sich, “da bin ich aber gerade noch einmal einer Riesen-Blamage entgangen”.
Er dreht sich um und will sich artig bedanken. Jedoch sind die Blüten schon wieder alle zwischen ihren Blättern versteckt. Da biegt der Zwobel vorsichtig ein Blattpaar auseinander und fragt das Glöckchen, warum sie sich dauernd verstecken? Sie wären doch mindestens so hübsch wie das Edelweiß neben seinem Zuhause im Steingarten und ihr feines Geläute gefällt ihm auch. Läuten könne das Edelweiß übrigens gar nicht. Der Zwobel hat in seinem Eifer ganz rote Bäckchen bekommen.
Da fragt ihn eines der Maiglöckchen, warum er sie denn alle aus der Gartenmitte hierher verbannt hätte? Das hätte er doch sicher nicht gemacht, wenn sie tatsächlich auch nur annähernd so schön wären wie das Edelweiß? Jetzt muss der Zwobel Farbe bekennen und vorsichtig erklärt er den Maiglöckchen, dass sie für Wurzerl hochgiftig wären und er sie darum unbedingt von den essbaren Bärlauch-Blättern trennen musste. Die Maiglöckchen verstehen nicht was “hochgiftig” bedeutet und so bleiben die weißen Blumen etwas skeptisch zurück. Vielleicht war der Zwobel jetzt nur höflich, weil sie ihn vor einer Blamage bewahrt haben?
Endlich sucht der Zwobel die Blumenelfe. Das Geläute der Maiglöckchen hat sie aus ihrem Schönheitsschlaf geweckt und sie benetzt gerade am Teichrand ihr Gesichtchen mit Wasser. Zumindest jetzt muss der Zwobel zur Erklärung Farbe bekennen und er berichtet, dass er sich im Blätterwald der Maiglöckchen verlaufen hat. Die Elfe hört sich die ganze Geschichte der Rettungsaktion an. Am Ende erfährt sie, dass die Maiglöckchen sich immer verstecken, weil sie sich hässlich finden. Das wiederum sei ausgerechnet seine Schuld, aber er wollte nur Wurzerl vor einer Verwechslung von Bärlauch und Maiglöckchen bewahren. Zuletzt fragt die Blumenelfe: “und … was möchtest Du jetzt machen, lieber Zwobel?” “Hm”, damit hat er jetzt nicht gerechnet, die Blumenelfe weiß doch sonst immer was zu tun ist. Nach kurzer Überlegung meint er: “Liebe Blumenelfe, vielleicht würde Dein wunderbarer Elfenduft helfen? Wenn die Maiglöckchen so einen herrlichen Duft hätten wie Du, das würde ihnen bestimmt mehr Selbstvertrauen geben.” Die Elfe freut sich über den Vorschlag vom Zwobel, denn genau den gleichen Gedanken hat sie soeben auch und so verspricht sie, das noch vor dem Abend zu erledigen.
Kurz vor der Dämmerung füllt sie einen Fingerhut-Becher voll mit ihrem Elfen-Duft. Sie fliegt über die Maiglöckchen hinweg und winkt. Diese freuen sich so sehr, dass sie ihre Glöckchen nach oben zur Blumenelfe drehen, um zurückzuwinken. So gelangt der Elfenduft praktischerweise gleich mitten in die Blüten-Kelche und bleibt von da an den Maiglöckchen treu. Und weil sie nun viel mehr Selbstbewusstsein haben, wachsen ihre Blüten-Stiele immer ein kleines Stück über die Blätter hinaus. Wenn dann ihr Duft beginnt durch den Garten zu strömen und ein helles Frühlingsklingen zu hören ist, dann wissen alle Garten-Bewohner, auch die, die am Gartenanfang wohnen, jetzt ist der Mai wieder da!
5 Kommentare
Deswegen will ich keine Maiglöckchen im Garten haben, dann müsste ich immer genau hinschauen, ob ich Bärlauch oder Maiglöckchen erwischt habe.
Schön finde ich die ja schon.
Super, dass der Gewinn angekommen ist!
Viele Grüße
Elke
Deine reizende Maiglöckchengeschichte habe ich mit großem Interesse gelesen. Du hast in deiner Geschichte eine wichtige Botschaft versteckt, wie unterscheidet man Bärlauch von Maiglöckchen. Jedes Jahr liesst man von Vergiftungen obwohl es markante Merkmale gibt, die es auch Stadtmenschen ermöglichen, sie auseinander halten zu können. Hoffentlich lesen hier viele Menschen deinen spannenden Bericht.
Liebe Grüße
Edith
Eine ganz zauberhafte Geschichte …
Eine tolle Geschichte und sehr wichtig. Das mit den Maiglöckchenvergiftung habe ich persönlich erfahren. Beim Entfernen eines Gartenteils hatte ich mir einen Ratsche am Unterarm zugezogen. Kurz darauf habe ich die Maiglöckchen entsorgt und dabei ist wohl der Saft an die Wunde geraten. Die Wunde hat lange gedauert, bis sie sich schloss und mein Puls lag nur noch bei gegen 40. GsD hatte ich nach einigen Wochen einen Termin beim Heilpraktiker, der mir ein Gegengift gab.Seiddem möchte ich keine Maiglöckchen mehr in meinem Garten.
Das ist wieder eine wunderschöne Geschichte von Dir. liebe Renate. Ich habe auch eine Menge Maiglöckchen im Garten und finde sie sehr schön. Liebe Grüße und ein schönes Wochenende wünsche ich Dir und “deinen Gartenfreunden”.