Ende Februar sind die Nächte noch knackig kalt. Als Wurzerl am frühen Morgen einen Schritt vor die Haustüre gehen will, zieht sie schnell den Kopf ein. Ein eisiger Wind treibt sie in das warme Haus zurück.Die Birke wirkt heute mit ihrer weißen Stamm-Rinde und den mit Eiskristallen überzogenen Ästen und Zweiglein wie eine unnahbare Eiskönigin. Die Moose und Flechten schauen erwartungsvoll in die langsam aufgehende, milde Wintersonne. “Ach”, seufzt das kleine Zwerg-Alpenveilchen: “Gleich werden meine Schnee-Rüschchen aufgeleckt sein. Warum ist die Sonne nur so ein Nimmersatt, diese glitzernde Stola steht mir doch so gut, oder?” wendet es sich mit seiner koketten Frage an die Schneeglöckchen. Diese nicken eifrig bimmelnd, stocken aber dann mitten im Kompliment. Was geschieht da plötzlich?
Zwei zarte, fast weiße Spitzen bohren sich langsam aus dem moosigen Untergrund und weinen ein paar Glücks-Tränchen, die wie Diamanten an den beiden kleinen Pflänzchen haften bleiben. So schön hatten sie sich das “Geboren werden” in der Wintersonne nicht erträumt.
Doch ihre Freude wird jäh getrübt, als die schlecht gelaunte Zaubernuss, die ein wenig Rheuma im Holz hat, höhnisch bemerkt, dass so ein hässliches Etwas doch in Wurzerls Garten eigentlich gar nichts zu suchen hätte.
Die beiden Blüten öffnen sich und sind furchtbar traurig, als sie sich anhören müssen, sie seien hässlich. Die Zaubernuss ist so riesengroß, sie kann so viel und weit sehen, deshalb hatte sie wohl sicher recht mit ihrem vernichtenden Urteil. Da die kleinen goldgelben Winterlinge in dieser Nacht furchtbar gefroren haben, legen sie gleich nach: “Ihr habt ja nicht einmal eine richtige Farbe abbekommen, gegen Euch bin ich ja eine wundergoldene Schönheit!” Inzwischen sind noch mehr von diesen zarten, blassen Pflanzenkindern aus der Erde geschlüpft, aber sie wagen alle gar nichts zu sagen, sondern schauen nur hilfesuchend nach oben in den inzwischen stahlblauen Himmel.
Die normalerweise wirklich verträgliche und bescheidene Kissenprimel ist in der Frostnacht so übel zerzaust worden, dass sie sich ebenfalls beeilt zu betonen, wie scheußlich doch diese farblosen Wesen seien.
Gerade in diesem Moment kommt die erste Biene des Neuen Jahres herbeigeflogen und bittet die zarten, jungen Geschöpfe, ob sie nicht ein paar Blütenpollen mitnehmen dürfe. Diese sind überglücklich, endlich stoßen sie nicht auf harsche Ablehnung. Gerne darf die Biene in den Blütenkelchen landen und sich bedienen und fliegt mit orange gefärbten Beinchen voll mit Blütenpollen zurück in den Bienenstock, um ihre Geschwister vorbeizuschicken.
“Was soll das denn jetzt?” Boah, jetzt ist der Winterling aber sauer geworden, weil die kleine Biene ihn nicht wie üblich, als Ersten besucht hat. Alle schimpfen jetzt in einem wirren Durcheinander auf die “Neuen” los.
Die Biene hört erstaunt zu und fliegt dann schnell zur Blumenelfe, denn, dass die neuen Garten-Bewohner in großer Not sind, hat sie schnell gemerkt. Die Elfe hört sich alles ruhig an und fliegt dann zum Rhododendron-Hügel, wo soeben dieses kleine Drama stattgefunden hat. In Wurzerls Garten soll es doch nur glückliche, zufriedene Geschöpfe geben. Das haben sich Wurzerl und die Blumenelfe schon vor langer Zeit fest gegenseitig versprochen.
“Oh, seid Ihr aber hübsch und zart”, haucht die Elfe überwältigt, als sie die schüchternen Blüten zusammengedrängt stehen sieht. “Ach bitte, darf ich Euch Elfenkrokusse nennen? Es wäre mir eine so große Freude, wenn Ihr Schönen meinen Namen tragen würdet.” Und sie nimmt die kleinen Wunder-Geschöpfe an die Hand und führt sie mitten in Wurzerls kleine Wiese, wo jeder Elfenkrokus einen schönen Platz bekommt. Sie wirft noch einen zufriedenen Blick auf ihre neuen Schützlinge und fliegt dann schnell nach Hause, um sich wieder ihrem Schönheitsschlaf zu widmen. Als Wurzerl am frühen Nachmittag in den Garten kommt, sieht sie plötzlich eine wunderschöne blühende Krokus-Wiese. Die kleinen Elfenkrokusse sind so selbstbewusst geworden, dass immer mehr und immer noch mehr kleine Elfen aus dem Boden schießen. Verzückt klatscht Wurzerl in die Hände und freut sich über diesen wunderherrlichen Anblick.
Die Sonne hat inzwischen alle Pflanzen wieder erwärmt und besänftigt. Die Blumen schämen sich jetzt ein bisschen, wegen ihres unfreundlichen Empfangs für die Elfenkrokusse. Nur der Winterling meint keck: “Warum sollten denn ausgerechnet wir Blumen klüger sein, als die Menschen? Sind die nicht auch oft ungerecht zu Anderen, nur weil sie diese nicht kennen?” .
18 Kommentare
Elfenkrokusse – Krokus tommasianus pflanzen steht aufgrund dieser Geschichte schon für Kalenderwoche 39 auf dem Kalender…..:-) Gemeinsam mit meinem 4-jährigen Enkel, dem ich vorher die Geschichte vorlesen werde !
Ich finde eigentlich den Bezug dieses Märchens zur momentanen gesellschaftlichen Entwicklung beängstigend aktuell.Schade.
Wünsche Euch fröhliches Verbuddeln!
LG Wurzerl
ein sehr schönes Blumenmärchen
Liebe Erika, dieses Märchen ist nicht der Anfang, wie die Nr. 1 suggeriert. Stell Dir vor, jetzt nach 11 Jahren habe ich mit dem Website-Basteln plötzlich den Anfang gefunden und das wird das übernächste Märchen werden, also ein neues Märchen und dann an die richtige Stelle Nr. 1.
Wünsche Dir einen schönen Abend.
Wurzerl
Wunderbar, dein Blumenmärchen!
Und jetzt ruft mein Garten nach mehr Elfenkrokofanten…
Es sollte eigentlich eine “versteckte Parabel” gegen Fremdenfeindlichkeit sein. Aber wenn ich rausgucke dann wird mir so warm ums Herz, auch wenn inzwischen ein Angriff auf die Elfen stattfindet. Von der Peripherie machte sich vor 2 Jahren eine Winterling-Armee auf den Weg, um das Gras gackerlgelb einzufärben. Unter der Zierkirsche haben die Winterlinge schon heftig Boden gewonnen, bin gespannt wie es weitergeht. Ich wünsche Dir eine schöne Woche. LG Wurzerl
Eine liebe Geschichte, Wurzerl. Die tapferen zarten Gesellen entzücken mich jedes Jahr aufs Neue. Die Geschichte ist wirklich gut, leider voll aus unserem Leben gegriffen.
Liebe Grüße
Trotzdem waren meine Gedanken beim Schreiben immer bei der märchenhaften Wiese und dem Foto der beiden Krokusse, noch geschlossen, das geschmolzene Eis der Nacht erinnerte mich tatsächlich an Freudentränen und so war die Geschichte geboren. Sie waren auch 14 Tage früher dran, als alle Artgenossen. Liebe Dorit Dir einen schönen Tag und herzliche Grüße vom Wurzerl
Wieder eine sehr anrührende Geschichte , liebe Wurzel. Es tut fast etwas weh, daß so ein zartes und schönes Blümchen wie der Winterling so,, unfreundlich,, denkt. Man sieht halt nicht von außen, wie es innen aussieht.Danke🤔
Nicht traurig sein, liebe Alla, der Winterling ist doch auch nur ein Mensch. Gute Nacht. Wurzerl
So eine schöne Geschichte Wurzerl. Beim garteln kommen Erinnerungen, Gedanken und Geschichten hoch. Und wann kommt mal ein Märchenbuch mit Geschichten aus Wurzerls Garten raus?
Ich bin gespannt, wie viele meiner vielen Elfenkrokusse dieses Jahr blühen werden. Täglich stehe ich vor geplünderten Krokusnestern, die offensichtlich seit neuestem von einem Tier – Krähen? – als leckerere Knollen verspeist werden. LG Christiane
Ja, das Leben ist für so kleine Elfen ganz schön gefährlich. Märchenbuch? Oh, wenn Ihr die Märchen alle auf Wurzerlsgarten lest, dann verbraucht die Blumenelfe und der Zwobel kein Papier, damit wird die Ressource Holz geschont und lach, ja Euer Geldbeutel auch, denn Märchen sind doch kostenlos am märchenhaftesten. LG Wurzerl
Wie schön meine Elfen werden von Jahr zu Jahr mehr. Herrliches Märchen. Nun sind meine Enkel zu groß. Die Interessen liegen anders sonst hätte ich es vorgelesen
Liebe Christa, gut dass wir nicht mehr größer werden. Da sind wir doch um einiges näher an den wesentlichen Dingen. Ich wünsche Dir eine gute Woche. LG Wurzerl
Wieder eine ganz zauberhafte und berührende Geschichte, mit wunderschönen Bildern unterlegt, passend zur jetzigen Jahreszeit.
Und… zu unserem jetzigen Sozialgefüge! LG Wurzerl
wundervolle Geschichte mit wunderschönen Bilder
Herzlichen Dank, liebe Beate und eine gute Woche. LG Wurzerl