Nach der langen Entstehungsgeschichte Sissinghursts, die ich in der letzten Woche erzählte, möchte ich Euch heute in die unterschiedlichen Garten-Zimmer einladen, aber einige Gedanken von Vita und Harold an den Beginn unseres Spazierganges stellen, der übrigens zum Großteil bei schlechten Sichtverhältnissen im Regen stattfindet.
Als die Überlegungen anstanden, ob Sissinghurst gekauft werden sollte, reagierte Vita wie folgt:
“Als ich diesen Ort zum ersten Mal sah, entflammte er augenblicklich mein Herz und meine Phantasie. Ich habe mich auf den ersten Blick in ihn verliebt. … Es war Dornröschens Garten: aber ein Garten, der nach Befreiung schrie. Und es war leicht vorauszusehen, sogar zu diesem Moment, welchen Kampf es uns kosten würde, ihn zu befreien.”
Harold machte sich, kaum war der Kaufvertrag unterschrieben, sofort an die Gartenplanung:
“Die Essenz des Gartendesigns – wie aller Formen architektonischer Planung – ist die Veränderung von Erwartungen durch das Element der Überraschung“.
Diese Forderung an sich selbst brachte Harold vielleicht auf die Idee, einen Garten zu errichten, dessen verschiedene Räume wie die Zimmer eines Hauses nutzbar waren. In der Tat wurde genau das realisiert und die Gartenzimmer hatten ihre eigenen Bestimmungen je nach Tages- oder Jahreszeit. So entstand ein Garten, der eigentlich aus 10 Gärten besteht, teilweise nur Wochen im Jahr attraktiv ist, denn, das ist wichtig zu wissen – die Beiden wollten ursprünglich nur für sich selbst dieses Garten-Kunstwerk schaffen, für niemanden sonst.
Am Gärtner-Eingang vorbei kommt man zum Vorhof mit dem Zugang zum Oberen Hof. Der Weg führt direkt zum Turm zwischen dem Oberen und Unteren Hof. Vom Turm aus geht der Blick nach draußen über die Hopfendarre in die Landschaft.
Um trotzdem möglichst viele Gartenteile über weite Strecken des Gartenjahres hinweg für die ca. 160 000 Besucher attraktiv zu halten, werden von den Gärtnern jährlich einige überalterte Rosen, Sträucher und (Obst)-Bäume ausgetauscht, wenn möglich gegen ähnliche Sorten. Staudensorten werden regelmäßig überprüft, ob es nicht länger blühende, bessere Sorten gibt, die trotzdem in das vorhandene Farbschema passen. Pflanzkübel bringen Farbe in schnell abgeblühte Gartenteile wie z.B. den Lindengang, der ein reiner Frühlingsgarten ist. Mit dem Zurücknehmen einiger Hecken und dem Austauschen von Graswegen gegen Pflaster, die den Besucher-Anstürmen besser standhalten, ist eigentlich auch schon das meiste erzählt, was nach der Übergabe der Gartenzimmer an den NT vorsichtig verändert wurde. Es ist nicht viel, aber alles ist sinnvoll und hat dem besonderen, ja intimen Flair Sissinghursts in keiner Weise geschadet. Im Gegenteil, das sorgfältige Prüfen neuerer, ausdauernder Sorten und Austauschen überalterter Gehölze steigerte die Pflanzenqualität beträchtlich und verlängert die Attraktivität einzelner Gartenräume. Die chronologische Entstehung und die Veränderungen habe ich ja bereits im 1. Teil über Sissinghurst aufgeführt. Also los geht’s, gehen wir hinein, worauf warten wir noch?
Vom Oberen Hof durch den Turm bis zum Unteren Hof
Ende des Violetten Beetes an der Bibliothek – 4 Säuleneiben flankieren den Durchgang – Dahlia ‘Edinburgh’ vor Rosa moyesii ‘Geranium’ im Top Courtyard
Wir laufen am Gärtner-Eingang vorbei und sehen schon von weitem die langgezogene Front der Langen Bibliothek und des Haupthauses, die praktisch durch den Durchgang im Eingangsbereich getrennt werden, aber eigentlich ein einheitliches Front-Ensemble bilden. Bereits im Vorhof ahnt der Kenner was auf ihn zukommt. Ich selber schmelze bereits dahin, als ich die Kombination der dunkelweinroten Clematis viticella ‘Purpurea Plena Elegans‘ (Waldrebe) hinter den duftigen zartrosa Wölkchen von Thalictrum delavayi (Chinesische Wiesenraute) entdecke.
Geranium x oxonianum Sämling – Rosa ‘Mermaid’ an der Bibliothekswand – Dahlia ‘Edinburgh’, Top Courtyard
Wenn ich den Oberen Hof, Top Courtyard, als Räumlichkeit betrachte, dann bezeichne ich ihn als “Eingangshalle”. Leider sah ich schon oft Besucher schnurstracks zwischen den vier Säuleneiben hindurch auf den markanten Turm zueilen, ohne diesen ersten Gartenraum näher in Augenschein zu nehmen. Ich widerstehe der Verlockung die Yorkplatten entlangzulaufen, auch wenn mir weit hinter dem Turm schon der Dionysos zuwinkt. Diese Sichtachse vom Eingangstor durch den Turm-Durchgang bis in die Garten-Peripherie, war sicher die erste Herausforderung für Harolds Planungen, denn hier war erstmals eine sanfte Korrektur der Achse vonnöten und das leicht abfallende Gelände zu berücksichtigen.
Die Schlichtheit des Weges und die Akkuratesse des niedrig gehaltenen Rasens lassen die Blicke sofort auf den Turm zustreben. Wenn sein Ziegelrot am Spätnachmittag das Leuchten des Abendrotes in den Himmel schießt, dann stand Vita sicher oft entzückt davor, bis sie sich wieder in ihre Turm-Schreibstube zurückzog, um weiter an ihren Gartenbüchern und Artikeln zu schreiben.
Ich bewundere indessen die Violette Rabatte. Die alten Rosen, die meist nur einmal blühen, sind längst vergangen. Unzählbare Hagebutten leuchten in verschiedenen Rot- Orange-Tönen aus Dahlien, Thalictrum, Eryngium, Campanula, Dierrama, Dianthus und vielen weiteren Stauden aus dem Beet heraus. Die Clematis drängen immer wieder hinter den Hagebutten an der Mauer nach oben. Violett hat keine Fernwirkung, also sollte man unbedingt die Bibliothek entlanglaufen, wo ich noch eine Rose ‘Mermaid’ an der Wand blühend vorfinde. Daneben residieren Rosa ‘Blossomtime’ und Indigofera pendula neben dem Bibliotheks-Eingang. Dann genieße ich die unaufdringliche violette Visitenkarte des Oberen Hofes.
Geranium pratense ‘Azure Skies’ – Blühbeispiele im Turmdurchgang – Gladiolus murielae, Abessinische Gladiole
Im Durchgang finde ich eine inzwischen Tradition gewordene Präsentation von Blüten einzelner Gartenteile mit dem botanischen Namen und dem Raum, in dem sie zu finden sind. Gerade in NT-Gärten habe ich dieses Willkommen und Informieren der Besucher in den letzten 10 Jahren vermehrt beobachtet. Eine viel ältere Tradition hat die alte Schiefertafel, auf der die jeweiligen Chefgärtner/innen die Tagesarbeiten aufschreiben und auf besonders schöne Stellen im Garten verweisen. Auch sie befindet sich im Turm-Durchgang.
Vom Turm führt eine Treppe auf das niedrigere Gartenniveau des Unteren Hofes ‘Lower Courtyard’, den man noch ebenerdig vom Oberen Hof ‘Top Courtyard’ aus betritt. 2 Bagatellevasen mit Pelargonium ‘Attar of Roses’ flankieren die Seiten vor den Stufen.
Natürlich gehen wir nicht einfach durch das Turmhaus hindurch, an dem man sich übrigens nicht vorbeimogeln kann, denn nur durch diesen “Tunnel” erreicht man den Unteren Hof (Lower Courtyard). Aber wer von Euch nicht schwindelfrei ist, der sollte sich vielleicht die enge Holzwendel-Treppe sparen und sich lieber die Fotos ansehen, die man von der Aussichtsplattform aus machen kann. Der Doppel-Turm gehört zu den ältesten Bau-Bestandteilen von Sissinghurst Castle. Auf halber Strecke zur Plattform ist ein Blick in das Arbeitszimmer von Vita möglich. Für mich ist das Besteigen des Turm bei jedem Besuch und Wetter in Sissinghurst ein Ritual.
Dann erst steige ich die wenigen Stufen in den Unteren Hof hinab. Das Pelargonium ‘Attar of Roses’ drängt sich üppig aus den Bagatelle-Vasen. In den Stufen-Ecken leuchten weißrosa Spanische Gänseblümchen, Erigeron karvinskianus, aus dem Ziegelrot.
Exquisit ist die Auswahl der Pflanzen wie Eucomis pallidiflora und E. comosa im Unteren Garten, mein Highlight dort der Senkgarten
Für die Gartenkritikerin Jane Brown ist: „die Beschränkung eine der bemerkenswertesten Eigenschaften von Sissinghurst“. Nirgends wird das so deutlich, wie im Unteren Hof, der insgesamt mit seiner raffinierten Schlichtheit punktet. Hier scheinen die Beet-Stauden und Kletterpflanzen, die Mauer entlang, besonders sorgfältig zusammengestellt worden zu sein. Das Ende vor dem Obstgarten wird vom Eibengang markiert, der wie der Untere Hof an einer Seite vor dem Rosengarten endet, gegenüber aber auch die gesamte Breite des Weißen Gartens begleitet. Auf der Turmseite und in Richtung Rosengarten begrenzt eine Ziegelmauer den Unteren Hof. In der großen Rasenfläche ist lediglich ein Baum-Solitär zum Weißen Garten hin gepflanzt. Vor der Mauer mit dem Durchgang zum Rondell im Rosengarten befinden sich ein kleiner intimer Senkgarten, den ich sehr liebe und ein Stück daneben das Magnolienbeet.
Vom Rosengarten zum Lindengang
Blick vom Doppelturm zum Beginn des Rosengartens neben Bauerngarten, über das zentrale Rondell des Rosengartens, bis zum rechten Teil mit der abschließenden halbrunden Powys-Mauer.
Der Durchgang vom Unteren Hof in den Rosengarten ist erneut Teil einer gigantischen Sichtachse. Mein Blick streicht die akkuraten Eibenhecken-Wände entlang und gleitet über das Rasenrondell zur Fortsetzung der Eibenwände bis zum Lindengang am Gartenende. Dort leuchtet das Alabasterweiß der Bacchantin auf einer halbhohen Stele und winkt mir zu. Schon bin ich wieder versucht, einfach dorthin zu gehen, aber, was würde ich verpassen?
Tatsächlich empfand ich Sissinghurst über mehrere Besuche hinweg, als lebendes Museum. Ich wusste, was in bestimmten Steintrögen gepflanzt war und der Stil und das Farbschema wurden stets von den Headgardenern gehütet und erhalten. Es drängte sich immer wieder Great Dixter in meine Vorstellung: Die begnadete Gartenanlage, die Christopher Lloyd mit seiner phantasievollen, wechselnden Spontanitäts-Gärtnerei, seiner Zeit weit voraus, groß gemacht hatte und die auch bei meinem letzten Besuch 2018 noch, dank dem Head Gardener Fergus Garrett, der auch nach Lloyds Tod unbeirrt die Dynamik der Arts & Crafts Bewegung in diesem Garten weiter pflegt und umsetzt und jeden Garten-Besuch dort zu einem neuen überraschenden Oha-Erlebnis macht, ist neben Nymans Garden mein englischer Lieblingsgarten.
Natürlich ist dieser Vergleich unzulässig, dazu musste ich aber erst zwei Dinge begreifen: Alle Gartenräume in Sissinghurst haben nicht nur jeder ein eigenes Thema, sie haben auch jahreszeitliche Schwerpunkte, zu denen sie glänzen, weil Vita mit ihrem Gatten ja in diesen Garten-Räumen lebte und es liebte, sich zu verschiedenen Vegetations-Phasen in unterschiedlichen Gärten aufzuhalten. Das zweite spricht absolut für die Headgardener Sissinghursts. Sie versuchten nie, den Charakter eines oder mehrerer Gartenteile total zu verändern. Es wurden lediglich aus Rasenwegen gepflasterte Wege gemacht, um den Besucherdruck vom Gras zu nehmen und die Stauden, Rosen und Gehölze werden bei bewährten alten Sorten, einfach regelmäßig verjüngt, oder wenn möglich, durch ähnliche bessere Hybriden einer Gattung oder Art ausgetauscht. So wurde die Attraktivität der einzelnen Gartenräume zeitlich verlängert, aber der Geist Vitas blieb immer in ihren geliebten Beeten berücksichtigt.
Michauxia campanuloides – Ruhige Szenen wechseln sich im Rosengarten mit überbordendem, exquisiten Blütenflor ab – Campanula thyrsoides, Strauß-Glockenblume
Die Gestaltung des Gartens ist eine grandiose Symbiose von einer großen Schlichtheit der Anlage mit einer überbordenden Bepflanzung derselben. Genau das spürt man nirgends so deutlich wie im Rosengarten, der mit einer gewohnt imposanten Blüten-Opulenz, aber neuerdings auch Wandlungen in den Pflanz-Kombinationen aufwartet.
Dierrama pulcherrima – Mauerbeet mit Eingang im Rosengarten – Penstemon ‘Pensham Czar’
Während das Rasenrondell ein ruhiges Zentrum darstellt, quellen aus den Mauer-Beeten und großen Mixed Bordern die alten Rosen und Begleitstauden samt den Kletterpflanzen üppigst heraus. Vita liebte ihre einmal blühenden Rosen mit den vollen Blüten in Samt-Farben und ihrem besonderen Duft. Inzwischen haben die Stauden nicht mehr nur eine Begleitfunktion zu den Rosen, sondern sie verlängern die Blühzeit im Rosengarten beträchtlich. So enttäuscht es dann auch nicht, wenn die Clematis ‘Perle d’Azur‘ an der Powys-Mauer mit der Lutjens-Bank davor nicht mehr blüht, sondern das Auge dort ein wenig Ruhe findet.
Auf jeden Fall ist es großartig, dass der anschließende Lindengang den Sinnen im Sommer, wenn man prallvoll mit Eindrücken aus dem Rosengarten eintritt, mit seiner Schlichtheit entgegenkommt. Dieser Gartenteil trägt bis zum letzten Frühlings-Geophyt ausschließlich Harolds Handschrift. Als Kontrast zur architektonischen Klarheit pflanzte er unter den Linden einen großartigen Frühlings-Teppich in bunter Farbenpracht, die sich, je mehr die Blüten im Rosengarten erwachen, langsam in die Ruhezeit zurückziehen. Heutzutage stehen toskanische Terracotta-Töpfe zwischen den Linden dieses Frühlingsgartens. Ich bräuchte diese blühenden Töpfe gar nicht, aber natürlich, die Geschmäcker sind verschieden. Aber den Lindengang einmal im Frühling zu erleben, das wäre für mich genauso besonders, wie den Weißen und den Rosen-Garten einmal in der Rosenzeit on top zu sehen.
Der Bauerngarten
Zur Planung, jedes Gartenzimmer an eine andere Saison zu koppeln, meinte Vita: Von Anfang an stand für uns fest, dass der Garten mit all seinen Räumen und Unterabteilungen jahreszeitliche Züge tragen sollte; er war groß genug, um Platz dafür zu bieten. Wir konnten einen Frühlingsgarten von März bis Mitte Mai haben, einen Frühsommergarten von Mai bis Juli, einen Spätsommergarten von Juli bis August und einen Herbstgarten von September bis Oktober. Der Winter muss sehen, wie er mit ein paar wenigen winterfesten Sträuchern und ein paar früheren Knollen zurechtkommt.
So kam es, dass der Bauerngarten, der zum Hochsommer-Garten bestimmt wurde, mit einem Mixed aus bewährten Cottage-Pflanzen und vielen exotischen (damals) Neuheiten in den Sonnenuntergangs-Farben bestückt wurde. Für Harold war das der intimste Garten-Bereich, dessen Blüh-Zeit er nachträglich mit dem Einbringen von Dahlien bis weit in den Herbst hinein verlängerte. Noch heute steht sein Holzstuhl im Garten neben dem Eingang zum South Cottage. Dort befanden sich auch die Schlafräume des Paares. Dieses Gebäude war übrigens als erstes bewohnbar gemacht worden und in diesem Gartenteil ist tatsächlich bei der Pflanzen-Auswahl der Geschmack von Beiden eingeflossen.
Gaillardia x grandiflora ‘Mesa Peach’ – Hedychium aurantiacum – Gaillarda aristata
Die vier imposanten Eiben am Wegkreuz weisen wohlwollend auf die Bepflanzung des wunderschönen, alten, grünspanigen Kübels hin. Auch hier gilt die Beschränkung auf die Farbtöne des Sonnenuntergangs von gelb zu orange bis rot. Harold und Vita nannten den Bauerngarten: “Unser Privatgärtchen” und später hörte man auch den Begriff “Sonnenuntergangs-Garten”. Das trifft es sicher auch besser, denn das Farbspektrum eines Cottage Gartens ist doch umfangreicher und vor allem, Cannas, Zieringwer, exotische Salbeisträucher und andere Raritäten sind nun einmal keine Bauerngarten-Pflanzen. Aber… dieser Garten strahlt noch heute die stärkste Intimität des ganzen Geländes und das überbordende Temperament Vitas aus und ich liebe dieses Stück Erde hier sehr.
Vom Nuss- und Kräutergarten zum Grabengang und Obstgarten
Die Bepflanzung des Nussgartens, der Nuttery, mit Lambertsnüssen erfolgte bereits um 1900. Niemals hätten Vita und Harold diesen Bereich angetastet, die Nüsse waren landschaftstypisch für Kent, hinderten aber Harold daran, eine Achse vom Rosengarten bis zum Ende des Nussgartens zu schaffen, was dann später mit der Errichtung des Lindengangs nachgeholt wurde. Harold hatte sich hier eine spektakuläre Unterpflanzung mit Primeln ausgedacht, die aber in den 1960er Jahren endgültig verschwanden.
In Folge änderte sich hier die Bepflanzung im Garten sicher am deutlichsten. Meiner Ansicht nach ist die Auswahl von Bodendeckern, immer nur wenigen verschiedenen, die zu verschiedenen Jahreszeiten glänzen, ohne die natürliche Ruhe des Nussgartens mit einem Farbmix zu irritieren, eine gute Wahl gewesen. Farne geben nicht nur grüne Struktur, wie reizend wirkt doch der Trichterfarn, Matteuccia struthiopteris, wenn sich dazwischen gelbgrüne Smyrnium perfoliatum keck herausstrecken? Am Ende des Nussgartens entdeckte ich mit der Anemone x cultorum ‘Wild Swan’ auch die erste zweifarbige Herbstanemone.
Rubus odoratus – Anemone x cultorum ‘Wild Swan’ – Digitalis ferruginea
In der hintersten Gartenecke schließt sich an den Nussgarten der Kräutergarten mit den Thymianbeeten an. Vita hatte eine starke Affinität zu Kräutern und vor allem zu ihren Düften. Niemals hätte sie sie zwischen ihren alten Rosen versteckt. Hier konnten sie ungestört ihre herbe Schönheit entfalten und Vita erfreuen. Heute ahnt man nichts mehr davon, dass der Beginn 1938 mit wenigen Kräutern zwar gelang, aber durch den Krieg alles stagnierte und als es später möglich war, dieses formale Rechteck endgültig mit unterschiedlichen Kräutern zu bestücken, erst einmal eine Giersch-Wüste entfernt werden musste. Im Zentrum steht eine von drei Löwen getragene Marmorschale, in der verschiedene Sempervivum einen lebhaften Teppich bilden. Die Schale ist ein altes Relikt aus der Zeit in Konstantinopel und wurde 1914 von Vita und Harold aus der Türkei mitgebracht.
Das Wegraster umfasst 20 Kräuterbeete. Eibenhecken bilden das schützende Kleinklima. In die Hecke wurde eine Kamillen-Steinbank integriert, die von Harold und Vita “Sitz Eduards des Bekenners” getauft wurde. Ich verlasse den Kräutergarten in Richtung zum Wassergraben, was mich an den Thymianbeeten vorbeiführt. Mein Blick geht zum Grabengang, streift die alte Mauer und die Azaleenböschung und bleibt an der Dionysos-Statue vor den aufgereihten, altehrwürdigen Bäumen neben dem Wassergraben hängen.
Dann betrete ich mit dem Obstgarten den mit Abstand größten Gartenteil Sissinghursts. Die Streuobstwiese verleiht diesem Garten eine besondere Natürlichkeit. Nach dem formalen Kräutergarten und dem schlichten Grabengang wirkt der Obstgarten fast wie verwildert auf den Betrachter. In die Wiese sind eine Unmenge Frühlings- und Herbst-Geophyten gepflanzt worden. Da hier nur zweimal jährlich gemäht wird, abgesehen von kurz gehaltenen Graswegen, können sich die Zwiebelpflanzen nicht nur für das kommende Jahr regenerieren, nein, sie vermehren sich auch. Der Wassergraben, der ursprünglich das ganze Anwesen umrundet hat, begrenzt nur noch 2 Seiten des Obstgartens, der Eibengang und der Grabengang umschließen ihn von den beiden verbleibenden Seiten. Auch der Orchard, wie man die Obstwiese hier nennt, wurde schon um 1900 angepflanzt. Aber das gelbe Narzissenmeer geht natürlich auf Vita und Harold zurück, genauso wie die Strauchrosen, die zwischen den Obstbäumen ihren Platz gefunden haben.
Abschied im Weißen Garten
Ich wende mich jetzt dem Durchgang zu, der mich in Richtung Turm in den Unteren Hof zurückführt und freue mich, dass ich mir den Weißen Garten als I-Tüpfelchen bis zum Schluss aufgehoben habe. Natürlich ist er auch bei meinem Besuch 2018 nicht in Hochform, denn auch hier ist im August die Rosenblüte längst vorbei und der starke Regen wirkt auf die Stauden auch nicht gerade aufmunternd.
Trotzdem ist es jedes Mal wieder sehr spannend für mich, den Weißen Garten durch die Bischofspforte zu betreten. Hier hatte ich ja immer die größte Enttäuschung einzustecken. Inzwischen habe ich aber begriffen, warum das so ist. Die Menschen kommen nicht einfach wegen der Symphonie aus Weiß- Silber- und Grün-Tönen hierher. Sie wollen alle “Den Weißen Garten” sehen, wenn die weiße Kletterrose, Rosa mulliganii in voller Blüte steht und rundum von den Stauden-Begleitern hofiert wird. Und ich erinnere daran, der NT beschränkt die Tages-Besucher, so dass es Gruppen-Reisenden nicht oft gelingt, Einlass in Sissinghurst zur Zeit der Rosenblüte zu bekommen. Leider steht und fällt mit ihrer Blüte die Attraktivität des Weißen Gartens. Ich war zweimal zu früh und zweimal zu spät für das Erlebnis, das die Rosenblüte hier beschert. Nein, ich bin nicht ungerecht, es ist so, der Weiße Garten ist der Einzige bei dem ich für diesen Beitrag Fotos aus 4 verschiedenen Jahren zusammengesucht habe, damit Ihr trotzdem einen möglichst positiven Eindruck vermittelt bekommt.
Passiflora caerulea ‘Constance Elliot’ – der weiße Garten 2008 – Clematis viticella ‘Alba Luxurrians’
Aber auch wenn es genug weiß blühende Stauden und Sträucher gibt, die in einem perfekt weiß blühenden Garten ausrufen könnten: “Es wird durchgeblüht!”, so beißt die Maus keinen Faden ab – es ist eben das “Esszimmer” von Vita Sackville-West und ihrer Familie im Sommer über gewesen und wenn sie nach der Abendmahlzeit sich in Richtung South Cottage begab, dann wurde sie eben mit einer Duftwolke und dem Schimmer weißer Rosen und Stauden aus dem Garten geleitet. Nie wäre Vita auf die Idee gekommen, dass der Weiße Garten später das Markenzeichen Sissinghursts werden würde. Im Observer schrieb sie etwas verhalten: “Ich möchte nicht vorzeitig mit meinem grau-grün-weißen Garten prahlen, vielleicht wird es ein schrecklicher Reinfall?!”
Orlaya grandiflora, Strahlen-Breitsame – Mittelachse – Argemone grandiflora, großer Stachelmohn
Entscheidend ist letztlich das, was auch heute noch von allen Headgardenern berücksichtigt wird. Sarah Cook, eine der Gartenmeisterinnen, fasste meiner Meinung nach, die Gartenphilosophie der Chefgärtner/innen mit folgender Aussage gut und richtig zusammen: „Am wichtigsten ist es, zu erkennen, dass das Ergebnis nie perfekt sein wird. Ein Garten verändert sich jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat. Man kann ihn unmöglich bewahren. Aber man kann seine Idee am Leben erhalten.“
Genau das ist die wunderbare Aufgabe, die hier in Sissinghurst konsequent umgesetzt wird. Es geht darum den Garten für die Besucher eine längere Zeit attraktiv zu gestalten und dabei den ursprünglichen Charakter soweit wie möglich zu erhalten. Der Erfolg gibt den Chefgärtnern recht, von denen übrigens bis auf 2 Männer alles Frauen waren, die die Geschicke des Gartens leiteten.
Ich gehe an der Laube am Nordausgang, dem Outdoor-Speisezimmer, Erechtheum genannt, vorbei und durch den Delos, der offenbar inzwischen wieder eine Aufwertung bekommen hat hindurch und da fällt mir wieder Great Dixter ein. Wie leicht hat es der Chefgärtner dort, der noch für den verstorbenen Vorbesitzer gearbeitet hat und genau die dynamische Vorgehensweise von Christopher Lloyd kennt, samt seinem Tempo, mit dem er Änderungen plante und durchführte. In Sissinghurst haben die Chefgärtner/innen schon mehrmals gewechselt. Sie kennen die Schöpfer des Gartens nur aus vielen Heften mit peniblen Aufzeichnungen und es gibt zwei sehr konträre Geschmäcker eines Ehepaares zu bewahren, die sich perfekt ergänzten. Ok, auch wenn ich die Rosenblüte vielleicht niemals erleben werde, Sissinghurst hat es doch verdient zu meinen drei großen englischen Garten-Favouriten zu gehören. Und vielleicht habe ich auch den einen oder anderen von Euch zu einem Besuch animiert.
Die Zitate stammen aus folgenden Quellen:
“Sissinghurst – einer der schönsten Gärten Englands”, Tony Lord, 2001, (Buchrezension am 19.04.2022)
“Sissinghurst – Porträt eines Gartens” Hsg. Julia Bachstein, 2002
“Einmal gärtnern wie in Sissinghurst” Astrid Ludwig, 2021, (Buchrezension am 12.04.2022)
Gartenadresse: Kent, Biddenden Rd, Cranbrook,TN17 2AB, Sissinghurst Castle Garden
3 Kommentare
Liebe Renate,
ein schöner Ausflug nach Sissinghurst! Dieser Garten war einer der beeindruckendsten, die wir in England besucht haben – aber vielleicht verzerrt seine Bekanntheit bei uns das Bild im Nachhinein ein bisschen. Wir hatten das Glück, die Rose im Weißen Garten blühen zu sehen, das war schon etwas Besonderes.
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
Susanna
Das Sissinghurst ein Museum ist (aber ein ganz großes, wundervolles ) wurde mir deutlich, als ich zwei Tage nach dem 1. Besuch in Sissinghurst Great Dixter besuchte. Und noch etwas wurde mir dabei klar: es ist falsch, Gärten miteinander zu vergleichen. Ich bin sehr froh darüber, so unterschiedliche Gärten erlebt zu haben und hier daran erinnert zu werden. Wunderbare Fotos Renate und ein informativer, schöner Text.Danke!
Einfach unglaublich, dieser Garten! Eigentlich sind es ja viele verschiedene Gärten. Und alles sieht so stimmig aus. Einfach toll!
Viele Grüße von
Margit